Hat so etwas wie spirituelle Entwicklung in unserem modernen Leben, das für viele mit Stress und Hektik verbunden ist, noch Platz? Viele gehen davon aus, dass sich immer mehr Menschen von den großen monotheistischen Religionen distanzieren.
Dies lässt sich nicht nur an einem allgemeinen Eindruck, aus den Medien etwa, ablesen, sondern auch statistisch, etwa an Zahlen der Kirchenaustritten.
Doch lässt sich auch eine gegenteilige Tendenz beobachten, einschließlich statistisch nachweisen. Besonders dort, wo die alten monotheistischen Religionen schwächer und schwächer werden, entstehen sehr verschiedene andere Arten von Spiritualität. Eine spannende Entwicklung, welche Soziologen wie Niklas Luhmann oder Armin Nassehi schon seit Jahrzehnten verfolgen.
Wohin auch immer diese Entwicklung gehen wird, sie wird zu einem der wichtigsten Themen des 21. Jahrhunderts werden. Sowohl für die Gesellschaft, die Politik als auch für jeden einzelnen Menschen.
Moderne „Spiritualität“ als Supermarkt
Moderne Spiritualität versteht sich als Wellness für die Seele. Der Glaube an ein Absolutes als Macht, die im Notfall immer und schützend zur Verfügung steht. Im Vergleich zu längst vergangenen Zeiten, in denen Götter und Mystik alltäglich das Leben bestimmten, immerhin waren die Götter in den Tagesablauf integriert, steht heute der Wunsch nach einem spirituellen Erlebnis im Vordergrund.
Heute bringen wir den Göttern keine Opfer und versuchen sie auch nicht gnädig zu stimmen, heute betrachten wir die moderne Spiritualität als Supermarkt, in dem sich jeder einzelne Mensch Produkte auswählen und zu einem individuellen Sortiment zusammenstellen kann.
Da kann es durchaus vorkommen, dass Produkte aus der Esoterik, dem Okkultismus oder dem Schamanismus in den persönlichen Warenkorb gelegt werden. Das spirituelle Erlebnis wird also perfekt aufbereitet und steht jeden Menschen zur Verfügung, ohne Verbindlichkeiten, Opfer oder Verzicht zu verlangen.
Spirituelle Entwicklung verweist auf „spiritus“
Spirituelle Entwicklung bzw. allgemeiner Spiritualität stammt von dem Wort „spiritus“, dem lateinischen Wort für „Atem“. Es gibt keine einheitliche Definition was spirituelle Entwicklung genau meint. Aber Wissenschaftler und Forscher haben verschiedene Aspekte festgelegt, die auf einen spirituellen Menschen zutreffen, beziehungsweise zutreffen können. Atem, das ist ein sehr passendes Bild, verbindet alle Lebenwesen miteinander.
Und Atem verbindet auch jeden einzelnen Menschen mit seiner Umwelt. Nic ht umsonst gehört die Kunst des richtigen Atmens seit Jahrtausenden zu den spirituellen Weisheiten und Praktiken. Stichwort Pranayama.
Nimmst Du spirit / Atmen als Gleichnis für Leben überhaupt, kannst Du dir auch solche Fragen stellen: Wie verbinde all das, was ich erlebe und tue? Wie fest oder flexibel stelle ich Verbindungen her zwischen allem, was mich betrifft. Wie orientiere ich mich selbst?
Auf jeden Fall steckt in der Frage nach Spiritualität eine bestimmte Lebenshaltung, die auf den Geist bzw. auf die eigenen geistigen Fähigkeiten ausgerichtet ist. Geist meint also keine Bettlaken – Gespenster, sondern die Fähigkeit, immer neu und immer weiter zu lernen. Und zwar nicht irgend was, sondern mir selbst auf die Finger zu schauen.
Geist hat also ein Mensch und das habe jetzt nicht ich erfunden, wenn er sich selbst orientieren und sich selbst korrigieren kann. Kann man nicht anknipsen, aber lernen. Menschen sind durch die Bank darauf angewiesen, das was sie brauchen zum überleben zu lernen. Ein Zufall ist das nicht. Umgekehrt, umso weniger Geist in diesem Sinne ein Mensch schon entwickelt hat, umso mehr Orientierung von außen braucht er und verlangt er auch meist.
Die Sehnsucht nach spiritueller Entwicklung
Der Wunsch und die Sehnsucht nach mehr Spiritualität ist etwas, das viele Menschen heute wieder verstärkt beschäftigt, was auch immer der Anlass oder der Auslöser dafür sein mag. Krankheit oder eine Lebenskrise gehören zu den häufigsten Auslösern, obwohl es auch andere Wege gibt.
Eine spirituelle Suche kann ins Leere verlaufen. Deshalb, so habe ich es gelernt, ist es wichtig, Fragen stellen zu lernen.
Nicht nur, was so schwer greifbare Phänomene wie Spirit und Götter betrifft, sondern viel umfassender noch. Es kommt für eine spirituellen Sucher darauf an, zwischen Glauben und mit den eigenen Sinnen geprüfter Gewissheit unterscheiden zu lernen.
Selbsttäuschung, meist in Form von Wunschdenken, ist die größte Gefahr, wenn ein Mensch sich auf spirituelle Wege begibt. Hilfreich beim Unterscheiden lernen kann ein differenzierter Blick auf die Erfahrungen des Christentums wie auch aller anderen Götter wie den Griechengöttern oder den ägyptischen Göttern sein.
Im Vergleich kann man recht schnell sehen, dass die großen existentiellen Fragen in den verschiedenen Mythen und Religionen extrem verschieden beantwortet und in den Religionen dann auch in feste Weltbilder und Regeln fixiert wurden.
Die Antworten also können es nicht sein, an denen man sich heute noch gut orientieren kann. Wohl aber kann sich ein spiritueller Sucher an den Fragen orientieren, die alle Mythen und Religionen bewegt haben.
Der Mensch in der Krise
Haben sich früher nur Priester, Mönche und Schamanen mit der Spiritualität beschäftigt, widmen sich heute immer mehr Ärzte und Psychologen diesem Thema und beziehen es in die Behandlung mit ein, denn eine achtsame Einstellung kann gesundheitsfördernd sein.
Es spielt keine Rolle, ob wir Menschen erkranken, den Arbeitsplatz verlieren oder finanzielle Probleme haben. Sobald sich eine existenzielle Krise bemerkbar macht oder wir uns bereits in der Krise befinden, stellen wir Menschen sich Fragen wie diese:
- Wer bin ich?
- Woher komme ich?
- Was ist der Sinn meines Lebens?
- Warum betrifft die Krankheit oder das Problem gerade mich?
- Wie und was kann ich ändern?
- Wie komme ich gestärkt aus der Krise wieder heraus?
Spiritualität ist eng verbunden mit der Achtsamkeit. Nur wenn wir Menschen achtsam leben, nehmen wir uns selbst, unsere Mitmenschen und auch die Natur um uns herum bewusster wahr. Die Spiritualität hilft uns, Gefühle, Empfindungen und Schmerzen anzunehmen, ohne diese gleich in gut oder böse zu kategorisieren. Wir lernen mithilfe der Spiritualität gewisse Empfindungen und Dinge aus ganz neuen Perspektiven zu betrachten.
Die an Rheuma erkrankte Klavierspielerin
Dieses Beispiel ist stellvertretend für viele andere Fälle und zeigt, wie Spiritualität in der Medizin zu Veränderungen und Erfolgen führen kann. Eine Dame, von Musik begeistert und begnadete Klavierspielerin, erkrankte an Rheuma. Mit zunehmenden Krankheitsverlauf bekam sie unerträgliche Schmerzen in den Händen. Geschwollene, schmerzende Finger bedeuteten, dass an ein regelmäßiges Klavierspiel nicht mehr zu denken war.
Die Dame ließ sich auf das Experiment Spiritualität und Achtsamkeit ein. Laut ihren eigenen Aussagen fühlte sie sich wie durch einen unsichtbaren Faden mit dem Himmel verbunden. Sie spürte eine Kraft, die den Blick auf das Wesentliche lenkt. Denn Schmerz ist sowohl körperlich als auch seelisch spürbar. Wer sich zu entspannen lernt, zum Beispiel mit Meditation, kann sehr viel besser mit Schmerzen umgehen.
Wie spirituelle Entwicklung bei Krankheiten hilft
Oft ist es sogar so, dass sich durch Meditation, kombiniert mit Yoga, blockierende Verspannungen auflösen lassen. Verspannungen und daraus folgende Schmerzen und Ängste haben viel damit zu tun, wie anfällig ein Mensch gegenüber Bakterien und Viren sind.
Interessant in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel die deutsch-amerikanische Studie des Bender Institute of Neuroimaging in Gießen. Sie wurde im Cerebral Cortex, einem Fachmagazin, veröffentlicht.
Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer, die Erfahrungen mit Meditation hatten, empfanden die Schmerzen weniger unangenehm. Es handelte sich dabei um die heute weltweit bekannte Aufmerksamkeitsmeditation. Außerdem hatten diese Studienteilnehmer auch weniger Angst vor dem nächsten Schmerzreiz.
Der Reiz am Muskel selbst war derselbe, aber wer regelmäßig meditiert lernt ganz automatisch, intensive Reize zu verarbeiten. Die Folge ist nicht etwa und da kann ich auf viele Jahre Meditationserfahrung zurückgreifen, dass man den Schmerz besser aushält, also tapferer ist.
Das sicher auch, aber Tapferkeit ist mit Schmerzen verarbeiten nicht gemeint. Sondern die Reize werden nicht als Schmerzen empfunden. Das ist möglich, weil sich sie schmerzenden Knoten und Stränge nach und nach auflösen.
Und dieses veränderte Empfinden von Reizen konnte bei der genannten Studie gemessen werden, indem Aufnahmen im Magnetresonanztomografen gemacht wurden.
Heilende Spiritualität
Spiritualität kann nicht bei allen, aber bei vielen Erkrankungen helfen. Sich klar für Werte wie Selbstverantwortung zu entscheiden hilft vielen, eine Krise leichter zu durchstehen.
Die Alternative wäre ja in der Regel, sich als hilfloses Opfer zu erleben. Ein höchst unangenehmes Erleben für einen selbst und auch für seine Familie oder Freunde.
Doch gerade in einer persönlichen Notlage wie einer Krankheit erkennen gar nicht so wenige Menschen etwas was ihnen vorher verborgen war. Sie denken intensiver über ihre Art zu leben nach und ziehen die für sich richtigen Schlussfolgerungen.
Für Menschen, die sich intensiv und konsequent mit einer Krankheit auseinander setzen, gilt sogar, dass sie ihre Krankheit als Weg zu ihrer spirituellen Heilung verstehen. Das kann auch, gerade wenn mit Meditation und Reflexion verbunden, zur Heilung dieser Krankheit führen. Solche Erfahrungen sind inzwischen keineswegs selten und werden auch als intensive spirituelle Entwicklung beschrieben.
Auf jeden Fall aber ist Spiritualität im Sinne von konsequenter Selbstverantwortung eine Kraftquelle. Sie hilft, Leiden und Krisen in einem anderen Licht sehen zu lernen.
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