Die Abenteuer des Odysseus gehen weiter mit der Fahrt zum Eingang des Hades. Odysseus will sich von dem blinden Seher Teiresias seine Zukunft vorhersagen lassen. Wird der Held auch auf den weisen Alten hören? Kirke hatte Odysseus geraten, durch das Reich des Hades zu reisen, um den blinden Seher Teiresias nach seiner Heimfahrt zu befragen.
Auf dem Weg zum östlichen Ende der Welt
Da vor ihm noch kein Sterblicher je von dieser Reise zurückgekehrt war, zauderte der Held zunächst. Doch Kirke ermutigt Odysseus und rät: „Setze nur getrost die Segel, der Nordwind wird euch zu Persephones Hain treiben, wo sich der Eingang zur Unterwelt befindet.“ Auch rät sie dem Helden, ein Totenopfer zu bringen, um den Seher Theresias zu sprechen.
Odysseus folgt ihrem Rat und segelt in die Gebiete der nächtlichen Kimmerier, wo der Weltstrom Okeanos, selbst ein Gott, ins offene Meer einströmt. Das müsste also am östlichen Ende der (den Griechen bekannten) Welt sein. Wie Kirke ihm geraten, brachten Odysseus und seine Gefährten vor den Toren des Hades ein Totenopfer dar.
Odysseus und Teiresias am Eingang des Hades
Als nun all die Seelen der Toten sich um die Opferstelle drängen, wehrt Odysseus sie mit seinem Schwert ab. Schließlich erscheint der Gesuchte: Der blinde Seher Teiresias.
Glückliche Heimfahrt suchst du, o weitberühmter Odysseus:
Aber sie wird dir ein Gott schwer machen; denn nimmer entrinnen
Wirst du dem Erderschüttrer! Er trägt dir heimlichen Groll nach,
Zürnend, weil du den Sohn des Augenlichtes beraubt hast.
Dennoch kämet ihr einst, obzwar unglücklich, zur Heimat.
Dennoch soll die Heimkehr ihm nicht verwehrt bleiben, wenn er und seine Gefährten die Rinder des Helios nicht antasten. Geschieht ihnen jedoch etwas, so weissagt Teiresias dem Schiff und den Gefährten Verderbnis, nach vielen Mühen, allein und unbekannt wir Odyssus auf fremden Schiff heimkehren und nur Elend in seinem Hause vorfinden.
Der Held ist also gewarnt. Doch bevor Odysseus den Seher Teiresias wieder ziehen lässt, fragt er ihn noch nach seiner Mutter und spricht schließlich mit ihr. Diese Passage übernehme ich vollständig, da sich die Stimmung zwischen dem Helden und seiner Mutter nur schwerlich zusammenfassen lässt. Die Metrik der Verse vermittelt sie zudem besser als eine nüchterne Zusammenfassung.
Odysseus trifft seine Mutter ….
Nachdem Odysseus endlich den gewünschten Rat von Teiresias bekommen, erkennt ihn schließlich auch seine Mutter, die Odysseus zwar sehen, aber nicht ansprechen konnte:
Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit.
Dort erblick‘ ich die Seele von meiner gestorbenen Mutter:
Diese sitzet still bei dem Blut, und würdigt dem Sohne
Weder ein Wort zu sagen, noch grad‘ ins Antlitz zu schauen.
Wie beginn‘ ich es, Herrscher, dass sie als Sohn mich erkenne?
Also sprach ich; und schnell antwortete jener, und sagte:
Leicht ist, was du mich fragst; ich will dir’s gerne verkünden.
Wem du jetzo erlaubst der abgeschiedenen Toten,
Sich dem Blute zu nahn, der wird dir Wahres erzählen;
Aber wem du es wehrst, der wird stillschweigend zurückgehn.
Also sprach des hohen Teiresias‘ Seele, und eilte
Wieder in Aïdes‘ Wohnung, nachdem sie mein Schicksal geweissagt,
Aber ich blieb dort sitzen am Rande der Grube, bis endlich
Meine Mutter kam, vom schwarzen Blute zu trinken.
Und sie erkannte mich gleich, und sprach mit trauriger Stimme:
Lieber Sohn, wie kannst du hinab ins nächtliche Dunkel,
Da du noch lebst? Denn schwer wird Lebenden dieses zu schauen.
Große Ströme fließen und furchtbare Fluten dazwischen;
Und vor allen der Strom des Okeanos, welchen zu Fuße
Niemand, sondern allein im rüstigen Schiffe durchwandert.
Schweifst du jetzo hierher, nachdem du vom troischen Ufer
Mit dem Schiff‘ und den Freunden so lange geirret?
Und kamst du Noch gen Ithaka nicht, und sahst zu Hause die Gattin?
Also sprach sie; und ich antwortete wieder, und sagte:
Meine Mutter, mich trieb die Not in Aïdes‘ Wohnung,
Um des thebaiischen Greises Teiresias‘ Seele zu fragen.
Denn noch hab‘ ich Achaia, noch hab‘ ich unsere Heimat
Nicht berührt; ich irre noch stets von Leiden zu Leiden,
Seit ich zuerst in dem Heere des göttlichen Agamemnons
Hin gen Ilion zog, zum Kampf mit den Reisigen Troias.
Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit:
Welches Schicksal bezwang dich des schlummergebenden Todes?
Zehrte dich Krankheit aus? Oder traf dich die Freundin der Pfeile
Artemis unversehns mit ihrem sanften Geschosse?
Sage mir auch von dem Vater und Sohne, den ich daheim ließ.
Ruht noch meine Würde auf ihnen, oder empfing sie
Schon ein anderer Mann; und glaubt man, ich kehre nicht wieder?
Melde mir auch die Gesinnung von meiner Ehegenossin:
Bleibt sie noch bei dem Sohn, und hält die Güter in Ordnung;
Oder ward sie bereits die Gattin des besten Achaiers?
Also sprach ich; mir gab die teure Mutter zur Antwort:
Allerdings weilt jene mit treuer duldender Seele
Noch in deinem Palast; und immer schwinden
in Jammer Ihre Tage dahin, und unter Tränen die Nächte.
Deine Würde empfing kein anderer; sondern in Frieden
Baut Telemachos noch des Königes Erbe, und speiset
Mit am Mahle des Volks, wie des Landes Richter gebühret;
Denn sie laden ihn alle. Dein Vater lebt auf dem Lande,
Wandelt nie in die Stadt, und wählet nimmer zum Lager
Bettgestelle, bedeckt mit Mänteln und prächtigen Polstern;
Sondern den Winter schläft er, bei seinen Knechten im Hause,
Neben dem Feuer im Staube, mit schlechten Gewanden umhüllet.
Und in den milderen Tagen des Sommers und reifenden Herbstes,
Bettet er überall im fruchtbaren Rebengefilde
Auf der Erde sein Lager von abgefallenen Blättern.
Seufzend liegt er darauf, bejammert dein Schicksal, und häufet
Größeren Schmerz auf die Seele; und schwerer drückt ihn das Alter.
Denn so starb auch ich, und fand mein Todesverhängnis.
Sohn, mich tötete nicht die Freundin der treffenden Pfeile
Artemis unversehns mit ihrem sanften Geschosse.
Auch besiegten mich nicht Krankheiten, welche gewöhnlich
Mit verzehrendem Schmerze den Geist den Gliedern entreißen.
Bloß das Verlangen nach dir, und die Angst, mein edler Odysseus,
Dein holdseliges Bild nahm deiner Mutter das Leben!
Also sprach sie; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,
Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter.
Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu drücken;
Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild,
Meinen umschlingenden Armen; und stärker ergriff mich die Wehmut.
Und ich redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:
Meine Mutter, warum entfliehst du meiner Umarmung?
Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Händen umschlungen,
Unser trauriges Herz durch Tränen einander erleichtern?
Oder welches Gebild‘ hat die furchtbare Persephoneia
Mir gesandt, damit ich noch mehr mein Elend beseufze?
Also sprach ich; mir gab die treffliche Mutter zur Antwort:
Mein geliebtester Sohn, Unglücklichster aller, die leben!
Ach! sie täuschet dich nicht, Zeus‘ Tochter Persephoneia!
Sondern dies ist das Los der Menschen, wann sie gestorben.
Denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden;
Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret
Alles, sobald der Geist die weißen Gebeine verlassen.
Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe.
Aber nun eile geschwinde zum Lichte zurück, und behalte
Alles, damit du es einst der lieben Gattin erzählest.
…. und seine alten Kampfgefährten
Nachdem seine Mutter wieder entschwunden, spricht Odysseus noch mit seinen alten Kampfgefährten Agamemnon, auch Achill und Patroklos, Ajas. Und in der Ferne hört er die gequälten Seelen des Sisyphus und des Tantalos. Angesichts der vielen unglücklichen Toten packt den Helden das Grauen. Odysseus verlässt den grausigen Ort und segelt weiter … zu seinem nächsten Abenteuer und begegnet den Sirenen.
Quellen
- Text: Gottwein
- © Dolon Painter – Jastrow (2006). Image renamed from Image:Odysseus Tiresias CdM 422.jpg, Gemeinfrei, commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2184725
Die Abenteuer des Odysseus
- Der Held Odysseus berichtet
- Odysseus und Polyphemos
- Bei der Zauberin: Odysseus und Kirke
- Der blinde Seher Teiresias – Odysseus am Eingang des Hades
- Erst die Sirenen, dann zwischen Skylla und Charybdis
- Odysseus und die Rinder des Helios