Joseph Campbell: Mythos der Heldenreise, Kundalini und Sonne-Mond-Balance
Heldenreise – Ein Bild für die Aufgabe eines jeden Menschen, sein Leben zu bewältigen, statt es einfach angenehm und unauffällig hinter sich zu bringen. Dabei geht es um die Reise, in der ein Mensch sich mit dem Held, der in ihm steckt identifiziert. Doch es gibt auch einen inneren Dämon, der den Held ohne Ende niedermacht.
Mit diesem Dämon muss man sich auseinandersetzen, wenn man sein Heldenpotential nutzen will. Diese Auseinandersetzung zwischen Held und Dämon bei den Wandlungen im Leben jedes Menschen wird in allen Mythologien beschrieben. Das große Thema des menschlichen Lebens, die Frage nach seinem Sinn hier auf Erden, seinen Hemmnissen, seinen geheimen Helfern.
Kundalini – Ein anderes Bild für dieselbe Aufgabe eines Menschen. In der Metapher der Schlange (des unsterblichen Lebens), die in jedem Menschen schlummert, geht es um die innere Wandlung eines Menschen, die ihn – mit der aufsteigenden Schlange im Leib – im wörtlichen Sinne des Wortes über sich hinauswachsen lässt.
Das Konzept der Kundalini ist heute noch in Indien bekannt und ausführlich beschrieben. Die Kundalini wird als Schlange beschrieben, die sich, wenn ein Mensch seinen Charakter entwickelt hat – oft sogar überraschend, von allein – im Bereich von Beckenboden und dann auch Steiß aus ihrem Schlummer erwachend zu regen beginnt. Um diese Schlange des Lebens – durch die Wirbelsäule – bis über den Kopf hinaus aufsteigen zu lassen, braucht der Körper dann in der Regel die regungslose Ruhe der Meditation und Hilfe durch Menschen, die diese Erfahrung schon hinter sich haben.
Denn die Aufgabe, vor der ein Mensch mit dem Aufsteigen steht, führt ihn unvermeidlich durch alle ihm unvertrauten Bereiche seines Leibes – durch all seine Anspannungen und Ängste – die sich in den Organen seines Leibes eingefressen haben, durch all die ängstlichen und auch aggressiven Gedankenmuster. Sie eben sind – erst im Laufe des Aufstiegs der Kundalini als erkennbare Gestalt wahrnehmbare – der eigene innere Dämon.
Ein – bei jedem Menschen spezifisches Muster, das sich dem Aufsteigen der Kundalini mit aller Kraft entgegenstemmt. Niemand, schreibt Campbell in einem anderen Buch, kennt den aufstrebenden Helden besser, kennt seine Ängsten, Unehrlichkeiten, Schwachstellen, wo er zu kriegen und zu stoppen ist, besser als eben dieser Dämon. Denn er ist der ignorierte oder zur Seite geschobene Teil des Helden selbst, das was der zielstrebige Held an sich selbst nicht wahrhaben will.
In vielen Mythologien, die das Erwachen und Aufsteigen der Kundalini beschrieben haben, wird dieser Dämon auch in Form von zwei Wächtern – der Angst und der Begierde – beschrieben, die den Eingang der Kundalini in den Kanal im Innern der Wirbelsäule (den Suschumna) bewachen.
Sonne-Mond-Balance. Ein weiteres Bild für denselben Prozess sind die Sonne und der Mond – eine Metapher, die ebenfalls in allen Kulturen entstanden ist – wie Campbell voller Bewunderung und Erstaunen nachweist – ebenfalls, wie Heldenreise und Kundalini – unabhängig voneinander. Dieses Bild beschreibt den Widerstreit der weiblichen (kühlen, strukturierenden) Kräfte mit den männlichen (feurigen, chaotischen) Kräften – die ein Mensch, will er zu einem unsterblichen Wesen reifen – ins Gleichgewicht bringen muss.
Und Sonne (Mann) und Mond (Frau) in jedem Menschen – versinnbildlicht eine weitere Verbindung – die zur Natur und Kosmos – der Herkunft und Heimat der Menschen. Gelingt es einem Menschen, seine chaotisch-männlichen und seine ordnend-weiblichen Kräfte in Balance zu bringen, sodass sie miteinander, statt gegeneinander arbeiten – wird er zu einem kreativem Schöpfer. Er zeugt / gebiert ein Kind – das Kind, das er selbst ist – als aufsteigendes, über die Enge des Körpers hinauswachsende Kundalini.