Gott als leidenschaftliches Verlangen nach unendlicher Schönheit, Freiheit, Liebe, Abenteuer, Frieden?
Der Mathematiker und Physiker A. N. Whitehead hat vor knapp 100 Jahren eine ungewöhnliche und sehr moderne Vorstellung von „Gott“ entworfen.
Gott als Begehren? Verlangen?
Keine gütige Autorität, die alles weiß? Keine Instanz, die mich straft? Kein allmächtiges Wesen? Und doch ordnet er die Welt auf einen Zweck hin, der alle Wesen miteinander verbindet.
Um verstehen zu können, wie Whitehead sein Konzept von Gott begründet und welche Folgen solch ein Gott für uns Menschen hat, lohnt es sich, seinen klaren Denk-Schritten zu folgen.
Gott als ordnender Eros: Das leidenschaftliche Verlangen nach ekstatischer Erfüllung
Gott als das Verlangen nach leidenschaftlich gefeierter Schönheit, nach vollkommener Liebe, Ekstase, Seligkeit, lebendiger Harmonie, Gewissheit von Ewigkeit. Oder schlichter (nämlich strukturell) formuliert: Nach Erfolg.
Erfolg also. Oh Mann. Es ist nicht grad leicht, auch für Whitehead nicht, für mich schon mal gar nicht, beim Thema Gott diszipliniert, sprich strukturell zu bleiben.
Die uranfängliche Natur Gottes
Weil: Die Erfahrung von vollkommener Erfüllung ist wie sie ist: Überwältigend. Alles was war, alles was wird, ist weg. Alle Sorgen, alle Absicherungen, alle Zweifel.
Ein isoliertes Einzel-Ereignis, wenn es so etwas geben sollte, ich denke nicht, würde sich eben deshalb (kein Vorher, kein Nachher, kein Anschluss) in vollkommener Seligkeit auflösen.
Das Verlangen nach Seligkeit, nach Glück wäre so in etwa das, was Whitehead als „uranfängliche Natur Gottes“ zu fassen sucht: Es ist in jedem Ereignis, unabhängig davon, was Glück inhaltlich meint.
Die Folgenatur Gottes
Aber damit nicht genug. Das vollkommene Glück geht weiter. Und sie ist eine Wirkung dieser uranfänglichen Natur Gottes, eine Wirkung, die Whitehead als „Folgenatur Gottes“ bezeichnet.
Knapp gesagt:
Ereignisse kommen nicht isoliert vor. Siehe das Juwelennetz des Indra. Sie bilden spontan (bei komplexeren Ereignissen auch bewusst entschieden) Ereignis-Gesellschaften. Sprich: Sie beziehen sich wiederholt aufeinander, erzeugen dadurch Strukturen, Muster, Muster in Mustern usw.
Seelen zum Beispiel bezeichnet Whitehead als paradigmatische Gesellschaften von Ereignissen: Jedes einzelne Ereignis vergeht, aber das Muster zwischen den Ereignissen einer Gesellschaft lässt sich durch neue Ereignisse (Wirkungen) reproduzieren. Und zugleich in jedem Moment modifizieren – das Prinzip der kontinuierlichen Selbstkorrektur.
Ereignis-Gesellschaften also (bei Maturana und Luhmann dann: Systembildung). Das besondere an ihnen: Sie lösen sich nicht gleich wieder auf wie die Einzelereignisse selbst, sondern bilden eine Doppelstruktur:
- Auf sich selbst bezogen (Selbstreferenz) sorgen sie für die Fortdauer ihrer eigenen Existenz (Autopoiesis).
- Auf anderes als sich selbst bezogen (Fremdreferenz) sind sie um Austausch bemüht, der auf ihre eigene Autopoiesis zugeschnitten sein muss (strukturelle Kopplung).
Das erhöht ihre Chance auf Dauerhaftigkeit, auf Ewigkeit sogar.
Zugegeben, die Wahrscheinlichkeit, dass Ereignis-Gesellschaften scheitern mit ihrer Autopoiesis, kurz- oder langfristig, ist sehr hoch.
Um an der Stelle wieder menschliche Erfahrungen als Gleichnis / Beispiel zu nehmen:
- Liebesbeziehungen, Beziehungen, Gemeinschaften, tolle Projekte scheitern, weil sie im relativ Unverbindlichen bleiben. Die Autopoiesis gelingt nicht, so sehr man ja eigentlich wollen würde.
- Oder umgekehrt: Ein Mensch, eine Familie, eine Firma ist so auf Autopoiesis im Sinne von Bewahren fixiert, dass sie in leeren Riten erstarrt und zu einer toten (relativ unverändlichen) Ereignisgesellschaft mutiert.
Whiteheads Gott als ordnender Eros
Aber die Möglichkeit, weder in die eine noch in die andere Falle zu tappen, ist da. Sie ist immer da. Die Möglichkeit, jetzt, in diesem Moment, dass sich das gesamte System / die ganze Ereignis-Gesellschaft in Richtung Glück orientiert, ist da.
Rein statistisch ist die Wahrscheinlichkeit extrem gering, dass eine Ereignisgesellschaft wie es z.B. eine Seele ist, genau diesen nächsten Schritt aus den unendlich vielen Möglichkeiten auswählt. Aber diese statistisch minimale Chance wird signifikant erhöht durch das was Whitehead „Gott“ nennt.
„Gott ist diejenige Funktion in der Welt, aufgrund deren unsere Absichten auf Ziele gerichtet werden, die in unserem eigenen Bewußtsein für unsere eignen Interessen unvorhereingenommen sind.
Er ist dasjenige Element im Leben, vermöge dessen sich Urteile über die Tatsachen der Existenz hinaus auf Werte der Existenz erstrecken. Und er ist dasjenige Element, vermöge dessen sich unsere Absichten über Werte für uns selbst hinaus auf Werte für andere ausdehnen. Er ist dasjenige Element, vermöge dessen die Erreichung eines solchen Wertes für andere in einen Wert für uns selbst transformiert wird.“
Über sich hinaus denken und fühlen und handeln
In meinen Worten: Gott ist die Kraft, Macht, Lust, über sich selbst hinaus zu denken, zu fühlen. Zu handeln. Nicht von sich abzusehen, das nicht. Sondern noch hinaus über sich. Zu wachsen. Größer werden. Weiter sehen, fühlen, entscheiden als man so – in seiner physisch eingeschränkten Existenz und deren Nöten, eingesperrt – gewohnt ist.
Ordnung und Harmonie, Schönheit im Chaos all der wirbelnden existentiellen Stimmungen zu schaffen – Ordnung, die über meine kleine Physis hinaus geht. Das Wort der Sünde – wissen Thelemiten – ist Beschränkung.
Die ordnende Macht der Liebe also ist der Schönheit, ist Gottes Kern. Oder in Worten des Liber L vel Legis, dem heiligen Buch der Thelemiten: Liebe ist das Gesetz.
Ja – das passt, das behauptet keinen Gott, der dich rettet – das kannst Du nur selbst. Erst recht keinen, der dich straft. Dito. Aber es leugnet nicht seine faktische Wirkungsmacht: Liebe – Ekstase: Über seine eingeschränkte Existenz in eine größere hinaus gehen.
Zum Beispiel, wenn Dir das nächste Mal ein Mensch gegenüber steht. Vielleicht kommst Du ja dann auf die Idee, dass er nicht so ist, wie Du glaubst, dass er ist. Sondern genauso existentiell mit sich und der Welt ringend, genauso tief vielleicht oder sogar genial – wie Du.
Ein ordnendes Wort zum Titel „Ordnender Eros“
Ordnender Eros – diese genaue Formulierung findest Du nicht bei Whitehead, solltest Du danach suchen. Das ist meine Übersetzung von Whiteheads Beschreibungen.
- Auf Eros bin ich deshalb gekommen, da ich in den Beschreibungen von Whitehead (Anziehung, Richtung, in jedem Ereignis, Ereignis-Gesellschaften etc.) den alten griechischen Gott Eros wieder gefunden habe. Wie bei Whitehead: Eros nicht das unschuldige Knäblein am Rockzipfel von Mama Aphrodite, sondern zusammen mit Gaia, Tartaros, Nyx und Erebos Schöpfer des Universums aus dem Chaos. Speziell die Anziehungskraft zwischen den Gegensätzen. So die alten und wie ich finde weisen Griechen.
- Auf ordnend bin ich gekommen, da diese Kraft (Eros) nicht nur überall wirkt, sondern als die verlockendste aller Möglichkeit jedem Ereignis die schönste aller logisch möglichen Lösungsrichtungen anbietet. So kann Ordnung in die unüberschaubare Anzahl an Möglichkeiten kommen, von Moment zu Moment entscheiden zu müssen, was „Ich“ als nächstes tu.
Damit hätten wir´s eigentlich
- Fehlt noch die Liebe?
Für meine Begriffe hab ich ihre verlockende Macht gerade beschrieben. Aber ich geb gern zu, dass man das leicht überlesen kann. In dem Fall bitte fragen 😉
- Fehlt noch der Mensch?
Ich hoffe ja nicht. In seinem (Whiteheads) Hauptwerk „Prozess und Realität“ ist der Mensch nicht groß Thema, da geht es ihm um kosmologische bzw. ewig wirkende Zusammenhänge. Um Schlussfolgerungen, die er aus seinen mehr als 40 Jahren Dasein als führender Mathematiker und Physiker den Menschen weiter geben will. Whiteheads Vermächtnis für die Menschen – für wen sonst?
Noch direkter ist Whiteheads Hochachtung für den Menschen in folgendem zu finden: Whitehead macht das menschliche Erleben, allen Menschen zugängliche Erfahrungen: Gefühle, schwer zu erfassende Gestimmtheiten usw. zum Ausgangspunkt seiner Kosmologie. Und: Er schließt vom Menschen auf den Kosmos.
Ein unerhörter Ansatz! Vom Menschen auf den Kosmos schließen! Wie kann man nur! Induktiver Fehlschluss!
Doch Whitehead kennt sich mit Schlussregeln bestens aus und weiß was er tut: Wir haben – als Menschen – nicht die Möglichkeit, von uns als Menschen zu abstrahieren. Wohlan. Wenn dem so ist, dann tun wir doch nicht so als ob wir es könnten! Sondern fangen da an, wo allein wir anfangen können. Bei unserer Erfahrung in der Welt, wie wir sie erleben. Wir sehen, fühlen, schmecken genau hin, was wir erleben. Wie genau wir das erleben. Und dann sehn wir weiter, zu welchen Hypothesen wir damit kommen. Und prüfen sie. Korrigieren sie. Forschen eben.
- Fehlt noch das Böse?
Das interessiert Whitehead nicht und Recht hat er. Meiner Erfahrung und Überzeugung nach ist das Böse nichts als eine Projektion von systeminternen Zweifeln, Hindernissen, Widersprüchen nach außen. Hat seine Eigendynamik, keine Frage. Aber es geht immer, selbst oder sogar gerade in der tiefsten Verzweiflung an sich selbst, auch anders.
Alles Vergängliche
Ist uns ein Gleichnis;
Das Unzulängliche,
Nun wird´s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Es wird getan;
Unendliche Schönheit
Zieht uns hinan.
(Von mir – nach Goethe. Faust, 2. Teil, Chor der Engel, also den letzten Versen der Tragödie)
Anmerkungen:
Die Basis dieser Leidenschaft ist die jedem Ereignis tief vertraute existentielle Einsamkeit. Und das meint Whitehead mitnichten metaphorisch, sondern durchaus strukturell: Jedes Ereignis ist Entscheidung, ist Wählen, unberechenbar, durch nichts was außerhalb dieses Ereignisses liegt, zu erzwingen.
Das muss man sorgfältig auseinander halten, wenn man Whiteheads genialen Gottes Begriff verstehen will, entspricht aber genau der Lebenserfahrung, die jeder von uns in jedem Moment macht.
Was also zunächst und zumeist – in unendlichen Klageformeln und Unschuldsbeteuerungen – hemmungslos durcheinander geworfen und damit unsichtbar gemacht wird ist folgender kleiner Unterschied:
- Die Umstände können die Entscheidungsfreiheit eines Ereignisses erheblich einschränken. Ja, das ja. Natürlich. Man kann nie alles tun.
- Nichts und eben auch die konkreten Umstände nicht, könnten ein Ereignis zwingen, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. Das kann immer nur das Ereignis selbst.
- Nie, nie, nie ist es anders.
Bildquellen:
© Painter of London D 12 – User:Jastrow, own work, 2008-03-15, Gemeinfrei, wikimedia.org/w/index.php?curid=504398