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Whitehead – ein Mathematiker holt das Göttliche ins Denken zurück

Alfred North Whitehead
Alfred North Whitehead

Whitehead, ein Mathematiker und Philosoph, der vor rund 100 lebte, soll ein freundlicher und umgänglicher Mensch gewesen sein. Was die Grundannahmen über diese Welt, in der wir leben, betrifft, nahm er kein Blatt vor den Mund. Im Gegenteil kam er zu Einsichten, an denen noch heute die allermeisten Menschen zu knabbern haben. Eine kleine Kostprobe, die gleich schon ans Eingemachte geht: 

Philosophie ist nichts als nutzloses Gerede, wenn sie so tut, als ließe sich die Welt von außen erklären. Als etwas, das so ist, wie es ist. Unabhängig von mir, unabhängig vom Beobachter.

Nein – sagt Whitehead, der Mathematiker und nicht irgendein Mathematiker, sondern Alfred North Whitehead.

… sich die Welt vom Leibe halten

Schon der Ansatz, die Welt unabhängig von dem der sie erlebt zu beschreiben, ist grundfalsch. Sprich: Führt und zwar notwendig, zu Selbstwidersprüchen und Fehlschlüssen. Die dann unsichtbar gemacht werden müssen, um vermeintlich save sich die Welt vom Leibe halten zu können.

Vom Leibe halten – das ist die exakte Stelle, an der Whitehead umkehrt und zeigt: Wir erfahren die Welt, wir erfahren Leben, indem wir uns darauf einlassen. Dann sind wir mittendrin, mit Haut und Haaren, Leib und Seele. Erleben uns selbst als Welt, als lebend, als Leben.

Ja das geht an die Existenz. Löst existentielle Stimmungen aus, die uns drängen, nach stimmigen Lösungen zu suchen. Ja, das fühlt sich mitunter gefährlich an. Aber nur dann können wir beschreiben lernen, was es auf sich hat mit dem Leben. Und der Welt, die wir schaffen, indem wir leben. 

Whitehead ist ein Pionier. Wenige, aber immerhin schon so mancher, ist ihm inzwischen gefolgt. 

Die Zweiteilung der Welt

Ich sehe was ich bin.
Ich sehe, was ich bin.

Den Menschen mit all seinen Gefühlen, Empfindungen, seiner menschentypischen Einzigartigkeit wieder hinein in die Beschreibung der Welt zu holen, ist ein großes Unterfangen.

Schon viele vor Whitehead hatten sich ihr Leben lang darum bemüht, den Menschen aus seinem manisch depressivem Nischendasein zurück ins Zentrum der Welt zu holen. Namentlich Künstler, Dichter, Denker.  

Goethe etwa, der im Faust den ewig nach Einsicht strebenden Menschen ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit stellt. Einsicht in das „was die Welt im Innersten zusammen hält“. 

Oder Kant, der die menschliche Vernunft als jene Welt ordnende Instanz ausmacht und ihr sein Lebenswerk widmet, die zuvor Gott und nur Gott vorbehalten war. 

Oder zu Zeiten von Sokrates erklärt Protagoras den Menschen zum Maß aller Dinge. Nicht die Götter. (Gott gab es damals noch nicht.) 

Doch alle Denker waren geboren und blieben gefangen in das was sie „zweigeteilte Welt“ nannten. Eine Welt geteilt in eine sinnlich physische Menschenwelt und eine rein geistige Ideenwelt. Und alles was sie tun konnten war, zwischen diesen beiden Welten, die so gar nicht zusammen passen wollten – krückenhafte Brücken zu bauen. Ebenso wie die drei monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum und der Islam. 

Nicht so Whitehead. Für Whitehead ist die viel beklagte Zweiteilung der Welt ein Trugschluss. Und er stellt sich der Frage, wie sich die allgegenwärtige Erfahrung von Menschen mit sich und ihrer Welt aus ihrem Schattendasein heraus holen lässt.

Das Unzulängliche – nun wird´s Ereignis

Whitehead macht folgendes: Die zuvor für nichtig abgetanen tatsächlichen Erfahrungen macht er zum Dreh- und Angelpunkt seiner Kosmologie. Gehen wir doch mal, statt uns in Abstraktionen zu verlieren von dem aus, wie wir (die Menschen) die Welt erleben. Wie sie sich anfühlt, wie wir dazu kommen, etwas zu beobachten, wie wir von einer Situation in die nächste kommen usw.

Wie verändert sich meine Welt, wenn sie aus Ereignissen und nicht mehr aus Teilchen besteht?

Die Welt besteht, fand Whitehead heraus, weder aus Atomen noch aus deren Bestandteilen, sondern aus Erfahrungen bzw. Ereignissen. Weiß heute (rein theoretisch) jeder. Für Whitehead aber was das nicht das Ende, sondern der Anfang seiner Forschung.

Mit „Ereignissen“ meint Whitehead nichts allgemein Vages, wie man meinen könnte, sondern einzelne, konkrete Ereignisse. Ereignis auf Ereignis folgend. Er nennt diese kleinsten Bestandteile mal einfach Ereignis, mal Erfahrungsereignis, mal Empfindung, mal Emotion, mal individuelles Einzelwesen.

Aber immer hat Whitehead damit etwas Lebendiges im Sinn, unberechenbar, weder zeitlich noch örtlich. Es dauert so lange wie es dauert. Einen Augenblick, einen Moment, einen Atemzug.

Zeit, wie wir sie in Sekunden und Jahren zählen, haben wir – Menschen – gemacht. Um vergleichen und messen zu können. Das tut das Ereignis selbst nicht. Es ist sozusagen – ganz – bei dem was es gerade tut. Oder noch deutlicher: Es ist nichts als das was es tut. Ganz und gar Ereignis oder wie Whitehead auch formuliert: Prozess.

Eine lebende Welt durch und durch

Wie verändert sich meine Welt, fragte ich mich, wenn sie aus Ereignissen und nicht mehr aus Teilchen besteht?

Nun, zumindest mal hört die Welt auf, eine Ansammlung von toten Dingen zu sein, die ich mehr oder weniger arrogant oder ignorant, jedenfalls unbeteiligt beobachten könnte.

Selbst mehr tot als lebendig, weil schicksalhaft dem Tode geweiht.

Sondern ich, die ich beobachte, bin beteiligt an dem was ich sehe, höre, rieche etc. Und nicht nur das, sondern: Ohne mich passiert gar nichts oder nichts als gleichförmig rauschende Ödnis.

Und mit der Lebendigkeit der Welt kehrt auch die meine, meine eigene Lebendigkeit zurück. Denn ich bin es, die entscheidet, was und wie ich sehe, was ich höre, was ich als wichtig oder unwichtig deute und welche Schlüsse ich daraus ziehe.

Beobachten lernen, was ich tue, wenn ich lebe

Göttermusik

Was folgt daraus für mich als normalen Menschen? Auf jeden Fall mal: Augen öffnen und genau hinsehen, was ich tue, wenn ich lebe. Ohne gleich zu deuten. Ohne automatisch zu bewerten. Sondern statt dessen beobachten, wie (genau) ich gerade beobachte. 

Beispiel: Viele Menschen heute in unserer Kultur haben Angst vor einem schmerzhaften, grausamen Tod. Der irgendwann zuschlagen könnte. Von innen (Krankheit) oder außen (Unfall) zum Beispiel. 

Sie glauben, dass es eine Instanz (etwas oder jemanden) gäbe, die über ihr Leben, ihre ganze Existenz entscheidet. 

Die Folge ist: Dass „Ich“ ein Opfer bin. Ein Opfer dieser Instanz. Oder ein Opfer der Welt, ein Opfer meines Schicksals, ein Opfer des Bösen in der Welt, meiner Nachbarn, meines Chefs, meines Körpers, der Umstände. Des Lebens. Wie auch immer. Hauptsache Opfer. 

Das ist der Trick. Mit dem „Ich“ sich vormacht: „Ich kann nichts dafür. Ich nicht.“

Nur: Wenn „Ich“ nichts dafür kann, dann kann „Ich“ auch nichts daran ändern. Wirklich? Und: Will ich die Welt, will ich das Leben wirklich über mich ergehen lassen? 

Oder nicht lieber doch – genauer hinsehen, beobachten, ehe ich Schlüsse ziehe und bewerte?

Beobachten als Schlüsselbegriff

Beobachten wird denn auch zu einem Schlüsselbegriff von jenen, die Whitehead folgen: Umberto Maturana, Heinz von Förster, Gotthard Günther, Niklas Luhmann.

„Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt.“ Dieser Satz stammt von Maturana. Luhmann erinnert in seinen berühmten Vorlesungen zur Einführung in die Systemtheorie daran: 

„Ich muss es immer wieder sagen, auch wenn Sie es vielleicht nicht mehr hören können. Doch ohne den Beobachter mitzudenken, werden Sie sich immer wieder in scheinbar unauflösbare Paradoxien verheddern.“

Jedes Ereignis ist einzigartig – doch was haben alle Ereignisse gemeinsam?

Die kommenden Götter

Fasziniert und geradezu dankbar bin ich, wie genau Whitehead das Zusammenspiel zwischen Lebendigkeit der Welt und der Einzigartigkeit jedes Ereignisses beschreibt.

Dankbar, weil in der europäischen Philosophe der letzten 2500 Jahre beides (Lebendigkeit und so etwas wie eine einzigartig Individualität zu sein) sehr hoch geschätzt wurde.

Nur hatten sich die meisten Philosophen und in deren Folge Wissenschaftler, Geistliche, Künstler darauf versteift, dass es einen unauflösbaren Widerspruch zwischen beiden geben muss. 

Dabei weiß eigentlich jedes Kind und jeder gesunde Menschenverstand, dass nicht eine Schneeflocke der anderen gleicht. Kein Fingerabdruck dem anderen, kein Blatt dem anderen, kein Schaf, kein Dackel usw.

Ununterscheidbare Gleichförmigkeit gibt es erst bzw. nur zu technischen Zwecken. Schrauben, Maschinenteile müssen exakt, genormt, verlässlich identisch sein, damit die Maschine funktioniert. Schlussfolgerung des gesunden Menschenverstandes:

Alles was lebt ist einzigartig

Alles was lebt und so auch jeder Mensch ist offenbar einzig so wie er ist. Lebendig eben. 

Was genau unserer individuellen Erfahrung entspricht. Menschen sind nicht nur einzigartig, sondern erleben sich selbst auch so. Einzig, besonders, anders als andere Menschen. Im Guten wie im Schlechten.

Seine Einzigartigkeit ständig zu demonstrieren stößt sicherlich meist auf einigermaßenes Unverständnis der Mitmenschen. Was vielleicht daran liegen mag, dass sie sich selbst auch als einzigartig erleben und sicherlich mitunter zu Recht vermuten, dass der Einzigartigkeits-Demonstrant sich für den einzigen Einzigartigartigen hält und die anderen für graue Masse. Aber das sind halt Spätblüten des in Paradoxien sich verheddernden Denkens (und damit Lebens). 

Whitehead dagegen, dieses Dilemma durchschauend, nimmt besagten gesunden Menschenverstand ernst. Er zeigt nicht nur, wie Philosophen es angestellt haben, sich in ihre verzweifelten Paradoxien zu verheddern, sondern er beschreibt auch, wie in jedem Ereignis Lebendigkeit und Einzigkeit zusammen spielen: 

Das Zusammenspiel von Eins und Vieles dank Kreativität

Eins, Kreativität und Vieles wählt Whitehead als Begriffe, um dieses Zusammenspiel zu beschreiben. 

  • Eins: Jeder Moment / jedes Ereignis ist neu, anders als alle vorherigen, anders als alle die es bisher gab. 
  • Viele: All jene Momente / Ereignisse, die schon vergangen sind, zu welcher Zeit, in welchem Kontext auch immer, sind vorbei. Aber sie haben Spuren (Wirkungen) hinterlassen, jedes seine eigenen, unterscheidbar von allen anderen. 
  • Kreativität: Leidenschaftliches Verlangen, alles was war (Vieles) zu vereinen zu einem lebendigen Zusammenspiel (Eins), das anders ist als alles was es bisher gab.
Welt wird durch mich zur wirklichen Welt

Was folgt daraus für das Verständnis von Leben / Lebendigkeit? 

Nicht nur jeder Mensch / Beobachter ist einzigartig, so Whitehead, sondern jeder Beobachter ist auch von Moment zu Moment, Augenblick zu Augenblick, Ereignis zu Ereignis, wie immer man das haben will, einzig.

Weil ausnahmslos jedes Ereignis, und davon gab und gibt es überabzählbar unendlich viele, auf einmalige Weise alles das es an schon gewesendem vorfindet, verbindet. Und indem es sich vollendet und vergeht, hat es allein schon dadurch das Erbe aller kommenden Ereignisse verändert. Und steht diesen als Material zur freien Verfügung.  

Ergreifen statt Wahrnehmen – Whitehead wählt den Begriff der „Prehension“

Wie ist das möglich? Wie kann man sich / ich mir verständlich machen, dass jedes Ereignis sich von allen anderen Ereignissen unterscheidet? 

Logisch ist das eigentlich schon mit dem Bisherigen erklärt: Jedes Ereignis – als einziges, eines – wird sobald es vergeht, zu einem der vielen. Da dies alle Ereignisse tun, verändert sich das Viele von Moment zu Moment. Folglich finden neue Ereignisse anderes Material vor als all ihre Vorgänger.

Whitehead verwendet für dieses Ergreifen alles Vorherigen nicht das Wort Wahrnehmung, sondern Prehension. Prehension lässt sich als Ergreifen, Erfassen, in Beschlag nehmen übersetzen. Für diese Wortwahl wird Whitehead vermutlich gute Gründe gehabt haben. Ich jedenfalls stelle mir unter „Prehendieren“ eher etwas Aktives, Gewolltes, vielleicht sogar Zielgerichtetes vor. Aktiver jedenfalls als Wahrnehmen. 

Noch deutlicher wurde mir der Unterschied zwischen Prehension und Wahrnehmung, als ich mich damit auseinander gesetzt habe, wie Whitehead das was prehendiert wird, beschreibt. 

  • präzise Daten – über die Sinnesorgane
  • vage Daten – als Empfinden, Stimmung, Gefühl, was sich oft nicht verorten lässt
  • mentale Daten – Konzepte bzw. Regeln, an denen sich Ereignisse bei ihrem Schöpfungsakt orientieren. 

Wichtig um zu verstehen was Whitehead damit meint, ist, glaube ich, sich klar zu machen, dass es diese drei Arten von Daten nicht einfach gibt und dann schaut man halt, was man so nimmt.

Nein, Whitehead kommt es darauf an, klar herauszuholen, dass jedes Ereignis immer, unumgänglich: Sinnliche und vage und mentale Daten aktiv ergreift. Es geht gar nicht anders. Und jeder Mensch, der will, kann das auch an sich selbst beobachten.

Als mir aufging, was das für Folgen hat, wurde mir klar: 

Whitehead stellt mit seinem Begriff Prehension tatsächlich schon an der Basis allen Geschehens die Weichen, die Welt bis ins Kleinste hinein als selbstbestimmt zu begreifen. 

Wow – das muss man erstmal verkraften!

Nach eigenen Kriterien ergreifen, statt passiv wahrnehmen – das ist der Unterschied!

Ich markiere diese Kehrtwende von Whitehead, damit sie nicht so leicht überlesen wird 😉

Die Welt ist durch und durch lebendig – Prozess!

Das Leben - ein großer Maskenball?

So richtig deutlich wird die Umkehr aller basalen Selbstverständlichkeiten, die Whitehead uns vor Augen hält, für mich, als ich mir klar machte, wie all die Ereignisse miteinander zusammen hängen. Inwiefern der ganze Kosmos aus Ereignissen besteht.

Der Schritt vom einzelnen Ereignis zum Kosmos als Prozess ist nicht mehr so groß. Für den, der sich lebhaft vorstellen kann, was es mit dem Ereignis bzw. Wahlakt von Whitehead auf sich hat: 

Kurz gesagt: Der ganze Kosmos ist Ereignis, genauer gesagt: eine Gesellschaft von unendlich vielen Ereignissen. Zusammenspiel unendlich vieler Ereignisse also, aber selbst auch Ereignis. Nach denselben Spieregeln wie jedes andere Ereignis auch.

Und daraus folgt für Whitehead ganz explizit: Ästhetik, genauer: das inbrünstige Verlangen nach Schönheit und Freude, welches jedes Ereignis ausmacht, hält die Welt in Bewegung.

Nicht physikalische Gesetze. Teilchen und Physik sind auch wichtig, ja. Nämlich für die Bauwerke der Menschen. Für Ablagerungen wie Steine, die sehr sehr lange brauchen, um sich verändern. Aber den Puls der Welt bestimmt nicht Physik, sondern die Tatsache, dass sich alles bewegt. Sich selbst.

Whitehead wählt viele Begriffe, um diese Umkehr des lange Zeit Selbstverständlichen zu verdeutlichen:

  • Ästhetik statt Physik.
  • Prozess statt Mechanik,
  • Ereignis statt Teilchen. 
  • Der Kosmos ist ein ständig sich als Ganzes wie im Kleinsten erneuernder Prozess. 

Eine Einsicht, bei der sich moderne Physiker-Philosophen und uralte Mythologien treffen. Im Juwelennetz des Indra zum Beispiel – ein alter hinduistischer Mythos: 

„Die Lehre des „Juwelennetzes von Indra“ bildet den Kern des Hua-Yen Buddhismus. Sie lehrt, dass der Kosmos wie ein unendliches Netzwerk glitzernder Juwelen ist, jedes unterschiedlich. In jedem können wir das Abbild all der anderen reflektiert sehen. Jedes Abbild enthält ein Abbild aller anderen Juwelen und auch das Abbild der Abbilder der Abbilder und so weiter ad infinitum. Die Myriaden Reflektionen innerhalb jedes Juwels sind die Essenz des Juwels selbst, ohne die es nicht existiert. Daher reflektiert und erschafft jeder Teil des Kosmos jeden anderen Teil. Nichts kann existieren, wenn es nicht in seiner Essenz die Natur alles anderen umfasst.“ (Richard Lubbock, Übersetzung P. Buchner) 

Whitehead und Russell

Russell 1907

Richard Lubbock beschreibt in seinem Text von 1999 sehr schön lebendig und für mich nachvollziehbar, welch lange und schwere Geburt dieses die Welt in ihren Grundfesten erschütternd konsequente Prozessdenken für Whitehead selbst gewesen sein muss: 

Das Erdbeben der Moderne

Whitehead lebte von 1861 – 1947 und war die meiste Zeit seines Lebens einer der führenden Mathematiker seiner Zeit. Erst 1926, also im Alter von 61 Jahren, ließ Whitehead Mathematik Mathematik sein und begann seine Lebenserfahrung zu resümieren. Philophische Vorlesungen haltend und das Buch „Prozess und Realität“ schreibend.  

„Die Naturphilosophie im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert erlebte verheerende Umwälzungen, welche Whitehead dazu brachten, seine reife Philosophie zu entwickeln. Im Rückblick auf seine Jahre in Cambridge erzählte er später einem Bostoner Journalist, „Wer hätte es sich träumen lassen, dass die Ideen und Institutionen, die damals so stabil aussahen, so unbeständig waren? 

Doch seit der Jahrhundertwende habe ich erlebt, wie jede einzelne grundlegende Annahme der Wissenschaft und Mathematik überholt wurde.

Einige der Annahmen, die wir zusammenbrechen sahen, hatten mehr als 20 Jahrhunderte bestanden. Diese Erfahrung hat mein Denken tief beeinflusst. Einst gedacht zu haben, Sicherheit zu besitzen und diese dann in den eigenen Händen in unfassbare Unendlichkeiten zerfallen zu sehen, hat mein ganzes Universum betroffen.“ (Richard Lubbock, Übersetzung P. Buchner)

Der Schock: Das Russell-Paradox

Das Vertrauen von Whitehead in die alles erklärende Logik und Naturwissenschaft begann um 1900 schockartig zu bröckeln. Zu dieser Zeit schlossen sich Whitehead und Russell zusammen, um an der dreibändigen Principia Mathematica zu arbeiten. Viele Zeitgenossen hatten die stolze Hoffnung genährt, dass sie bald alle Probleme der Welt im Feuer der universellen wissenschaftlichen Vernunft lösen könnten.

Die Principia war als ein Schritt zu diesem vornehmen Ergebnis konzipiert: Whitehead und Russell hatten sich vorgenommen zu beweisen, dass die gesamte Mathematik aus der Logik abgeleitet werden kann. Aber sie befanden sich unter der dunklen Bedrohung von Russells gleichnamigem Paradox.

Russell entdeckte sein Paradox kurz bevor die Arbeit an der Principia begann. Das Problem hatte 2500 Jahre lang geschlafen wie ein zerebrales Aneurysma, das darauf wartet sich im Kopf der Mathematik auszubreiten, seit Epimenides der Kreter erklärt hatte, dass alle Kreter Lügner seien.

War Epimenides selbst ein Lügner? „Niemand nahm das wirklich ernst“, schrieb Russell, aber er fand heraus, dass dieses abgenutzte Salonrätsel direkt an der Wurzel der Arithmetik ansetzte. Er hatte die geistreiche Idee, Epimenides Argumentation auf logische Klassen anzuwenden, die die Basis der Zahlen bilden.

Ganz besonders beschäftigte er sich mit der Klasse der Klassen, die nicht Elemente ihrer selbst sind. Zu seinem Missfallen fand er heraus, dass diese sowohl zu sich selbst gehören als auch nicht: ein nicht akzeptables Ergebnis. Er sagte später, dass er zunächst dachte, dass ein Fehler in seinem Denken sein müsste.

Er „inspizierte es unter einem logischen Mikroskop“, ohne einen Fehler zu finden. Am Ende schrieb er die schlechte Nachricht an Whitehead, der sie untersuchte und mit einem freudlosen Telegramm antwortete: „Es wird keinen fröhlichen, zufriedenen Morgen mehr geben“. 

Die Wege der beiden großen Mathematiker trennten sich. Nicht gleich, aber dann im Laufe des 1. Weltkrieges (1914-1918). Während Russell zu einem Protestphilosophen, der sich selbst als Atheist und Materialist verstand, ging Whitehead in die entgegengesetzte Richtung. Er entwickelte seine Prozess-Philosophie. Und Gott war nun kein allmächtiger, allgütiger Vater mehr, sondern die allem Leben innewohnende Fähigkeit, aus Widersprüchen Schönheit zu schöpfen. Und damit neue Widersprüche als Material für weitere Schöpfungsakte.  

Siehe auch Gott als ordnender Eros.

Bildquellen: 

© wikipedia.org
© mythos-web.de

Literaturquellen: 

Whiteheads Hauptwerk: Prozess und Realität: www.amazon.de/gp/product/3518282905/ref=od_aui_detailpages00?ie=UTF8&psc=1
Über Maturana: www.hyperkommunikation.ch/literatur/maturana_erkennen.htm
Luhmanns Einführung in die Systemtheorie: www.amazon.de/Einf%C3%BChrung-die-Systemtheorie-Dirk-Baecker/dp/3896704591
Lubbock über Whitehead: http://www3.sympatico.ca/rlubbock/ANW.html
Über Lubbock: https://www.davidwarrenonline.com/2015/01/23/richard-lubbock/


Was sind Götter Artikelserie

4 Kommentare

  1. Ein moderner Philosoph, der Anstoß gibt, Gott (auch christlichen Glauben) mit einem modernen vernünftigen Weltbild in Einklang bringen zu können.

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